Steine und Gebirge

Die genialsten Lehrer und Mentoren in meinem Leben waren - und sind! - jene, die mich immer wieder gefordert haben, aus meiner Komfortzone gelockt, mich in die hungrigen Augen jener Gedanken und Selbsturteile haben blicken lassen, mit denen ich mich selbst eingeschränkt und eingesperrt habe. Die, die über mich gewacht haben, während ich meinem eigenen Verstand beigebracht habe, dass mir alle Wege offenstehen und meine Möglichkeiten und Fähigkeiten keine Grenzen kennen. Die, die am anderen Ufer des allesverschlingenden Gedankenstroms auf mich gewartet haben, den zu überqueren ich nicht für möglich gehalten hätte. Das waren die Lehrer, für die es vollkommen in Ordnung war, dass ich meinen eigenen Weg habe finden wollen, nicht dem ihren gefolgt bin, die den Funken, der in mir brennt, genährt haben, nicht versucht haben, mich kleiner zu machen und mein Feuer zu ersticken. Jeder einzelne von ihnen hat Liebe und Geduld als seine Lehrmittel genutzt. Sie waren streng, aber niemals ungerecht, und was sie selbst auf ihrem Lebensweg erfahren und erlebt hatten, gaben sie als Weisheit weiter und missbrauchten ihr Wissen niemals, um dieselben Wunden in den ihnen anvertrauten Schülern aufzureißen und zum Schwären zu bringen.

"White Lion Tamarin", weiße Pastellkreide, Kristin Raphaela Otti (2023)

Als Kind liebte ich es zu schreiben und zu malen. Mich faszinierte das Malen mit Bleistiften, das Schattieren. Zu sehen und durch das Malen selbst zu erfahren, wie Licht und Schatten zusammenspielen und erst das Erfahren und Erspüren beider Seiten ein ganzes Bild ergibt, hielt mich lange in seinem Bann und hat mich bis heute nicht losgelassen. 

Als ich 1994 in die Oberstufe des Gymnasiums kam, durfte ich einen Teil der Schulfächer wählen, auf die ich mich spezialisieren wollte. Ich entschied mich damals für Bildnerisches Gestalten, also Zeichnen. 
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Unser Professor war Artur Hanzer, der Schuldirektor selbst, ein akademischer Maler, Künstler und Lehrer. Von Anfang an begeisterte er uns mit seinem unglaublichen Humor und es fiel uns leicht, unsere Scheu abzulegen. Nach der allerersten Zeichenstunde ging ich auf ihn zu und fragte ihn, ob wir auch mit Bleistiften zeichnen würden und nicht nur mit Wasserfarben. Ich erklärte ihm, dass ich Bleistiftzeichnungen liebte und besser darin werden wollte. Ich zögerte einen Augenblick und dann ergänzte ich, dass ich ein paar meiner Zeichnungen dabeihätte und ich sie ihm zeigen könnte, wenn er einen Blick darauf werfen wollte. Er wollte. Er betrachtete sie eine Weile, dann sah er mir geradewegs in die Augen und sagte: „Das sind komplexe Bäume. Du bist eine sehr alte Seele, genauso komplex.“ Dann kam ihm ein Gedanke und er fragte: „Hast du voriges Jahr am Zeichenwettbewerb teilgenommen?“ „Ja.“ „Ich hoffe, deine Zeichnung war unter den prämierten Werken. Hast du etwas gewonnen?“ „Ja. Malen wir auch mit Bleistiften?“
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„Ich wusste, dass du das kannst.“ Ich starrte ihn einfach an. Das war das erste Mal in meinem Leben gewesen, dass mir das jemand gesagt hatte. 

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​Er begann zu lächeln und sagte eine Weile lang nichts. Er wusste es. Was ich nicht gesagt hatte, war, dass ich den Zeichenwettbewerb gewonnen hatte. Es interessierte mich allerdings nicht, ich wollte lernen. Ich hatte eine Bleistiftzeichnung für den Wettbewerb eingereicht. Der einzige Grund dafür war gewesen, dass mein alter Kunstlehrer zu mir gesagt hatte, dass hunderte andere besser darin wären, mit Bleistift zu zeichnen als ich, und ich gefälligst Wasserfarben verwenden sollte. Selbstverständlich hatte ich das genaue Gegenteil getan. Ich gewann den Wettbewerb und mein alter Zeichenlehrer sprach kein Wort mehr mit mir. Während des restlichen Schuljahres ignorierte er mich vollkommen und sah mich nicht mehr an. 
 
Mein neuer Zeichenprofessor, Artur Hanzer, sagte: „Es gibt nicht mehr viel, das ich dir beibringen kann, aber was ich weiß, werde ich dir zeigen. Ich möchte, dass du mir etwas versprichst: Komm zu den Zeichenstunden am Nachmittag, damit ich dich weiter unterrichten kann. Sie sind offen für alle und nicht verpflichtend.“ Ich begriff nicht, was er damit meinte, aber ich hörte aus den Worten heraus, dass er mich unterrichten wollte und ich weiterlernen durfte.  „Danke!“ Dann, als wir am Gehen waren, sah er mich plötzlich noch einmal an und fragte nachdenklich: „Ist bei dir zu Hause alles in Ordnung?“

"Felsen", ein einfacher Kugelschreiber, Kristin Raphaela Otti (1994)

Am Beginn der folgenden Zeichenstunde erklärte er uns, dass wir Felsen und Steine zeichnen würden, um mehr über das Schattieren zu lernen. Ich war sofort Feuer und Flamme. Schattieren hieß Bleistifte. Er begann mit einem einzelnen winzigen weißen Kreidestück Felsen auf der Tafel zu malen. Dasselbe weiße Kreidestück, das unsere Mathematikprofessorin nur ein paar Augenblicke davor benutzt hatte, um ihre Zahlen zu malen. Nur ein winziges Stück weiße Kreide, keine Bleistifte mit verschiedenen Härtegraden. Ich starrte seine Zeichnung mit offenem Mund an. Als er seine Zeichnung fertiggestellt hatte, lächelte er uns zu. Dann sah er mir direkt in die Augen und sagte: „Ihr werdet zum Zeichnen einen einzelnen Kugelschreiber benutzen. Sonst nichts. Fangt an!“ Ich erstarrte. Mein Verstand erklärte mir sofort, dass das unmöglich wäre. Absolut unmöglich. Ich blickte auf das weiße Zeichenpapier vor mir, dann sah ich Professor Hanzer noch einmal an. Er betrachtete mich immer noch lächelnd. In seinem Lächeln lag keine Herablassung, keine Verachtung und in seiner Energie war keine Aggression und kein Zorn zu spüren. Nur tiefer Frieden. Ich setzte meinen Kugelschreiber auf das Papier und begann, erste Linien zu ziehen. 
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Jeder einzelne von ihnen hat Liebe und Geduld als seine Lehrmittel genutzt. Sie waren streng, aber niemals ungerecht, und was sie selbst auf ihrem Lebensweg erfahren und erlebt hatten, gaben sie als Weisheit weiter und missbrauchten ihr Wissen niemals, um dieselben Wunden in den ihnen anvertrauten Schülern aufzureißen und zum Schwären zu bringen.

​Dann sah ich wieder auf. Sein Blick ruhte immer noch auf mir, sein ganzes Wesen strahlte Ruhe aus. Ich begann weiterzuzeichnen, zuerst zögerlich, dann, irgendwann, verstummte mein Verstand. Zeit hörte auf zu existieren. Nach einer Weile hieß er uns, unsere Stifte zur Seite zu legen und begann von Tisch zu Tisch zu gehen. Er erklärte, lächelte, machte Vorschläge. Dann blieb er vor meinem Tisch stehen und besah meine Zeichnung. Er wartete geduldig, bis ich ihm in die Augen schauen wollte. „Ich wusste, dass du das kannst.“ Ich starrte ihn einfach an. Das war das erste Mal in meinem Leben gewesen, dass mir das jemand gesagt hatte. 

Er wurde wenige Wochen später plötzlich und vollkommen unerwartet aus dem Leben gerissen. Ich erinnere mich daran, geweint zu haben. Als Kind habe ich nicht geweint. An dem Tag, als ich die Nachricht über seinen Tod erhalten hatte, weinte ich. 
 
Kurz vor seinem plötzlichen Weggang hatte er mir unter der Bedingung, die außertourlichen Zeichenstunden wahrzunehmen, erlaubt, meine Fächer zu wechseln. Ich war nicht länger spezialisiert auf Bildnerisches Gestalten und Kunst, sondern hatte in den Jazzzweig gewechselt und begonnen, Jazzgitarre zu lernen. Wir hatten bei der Gelegenheit ein wunderschönes Gespräch. Er war ein Universalgenie, ein Philanthrop und ein Verfechter der Allgemeinbildung, der es jedem einzelnen seiner Schüler ermöglichte, so viel er wollte, zu lernen. ​Auch das war ein Grund, warum er mir gestattete, mitten im Schuljahr einfach den Zweig zu wechseln. 

"White Whale", weiße Pastellkreide, Kristin Raphaela Otti (2023)

Die darauffolgenden Jahre war es dann mein Jazzprofessor, der mich forderte. 

​Jede einzelne Seele, jedes Wesen, dem man auf seinem Weg begegnet, ist ein Lehrer, genauso, wie man selbst Lehrer für jene ist, die den eigenen Pfad kreuzen. 

Liebt und achtet jene Lehrer und Mentoren, die nicht alles auf dem Silbertablett servieren. Liebt und achtet jene, die euch keine Steine und Gebirge in den Weg legen, sondern euch zu den Steinen und Gebirgen führen, die euer eigener Verstand erschaffen hat, und die euch dabei helfen, so zu wachsen, dass jeder einzelne Berg, der vor euch liegt, zu einem einfachen Kieselstein wird. Jene Lehrer und Mentoren, die euch zeigen, dass der Gedanke, der eine Herausforderung geschaffen hat, auch den Schlüssel, das Lernen, in sich trägt, die Herausforderung zu bewältigen.
 
Ich habe die Zeichnung, die ich 1994 gemacht habe, immer noch. Sie ist zerknittert und an einer Stelle eingerissen. Sie ist Teil meines Altars in meinem Heilzeremonienraum. Jeder Felsen, den ich damals gemalt habe, ist ein Berg, den ich in dem Augenblick bestiegen und überwunden habe, in dem ich ihn gemalt habe. 
 
Es gibt keine Herausforderung, nichts, absolut nichts, das du nicht in Heilung und Weisheit verwandeln kannst. Jede Herausforderung trägt die Lösung in sich, jeder Schatten kennt das Licht, das ihn zum Vorschein gebracht hat.